Über Wirkung und mögliche unerwünschte Nebenwirkungen des Enneagramms
Das Enneagramm geht über die reine Beschreibung der neun Typenmuster weit hinaus. Aufgrund der Dynamik dieses Modells erhalten wir auch konkrete Hinweise für persönliches Wachstum. „Unerwünschte Nebenwirkungen“ sind möglich, lassen sich aber vermeiden.
Unsere Wahrnehmung ist selektiv
William James, der Begründer der wissenschaftlichen Psychologie in den USA, sprach davon, dass das Kleinkind seine Umwelt als „leuchtendes, summendes Wirrwarr“ erfährt. Dieses „Wirrwarr“ müsse in irgendeiner Weise gebändigt werden, und es ist die Aufgabe unseres Gehirns, diese komplizierte Aufgabe zu erfüllen. Dabei rückt das Gehirn die für uns wichtigen Dinge (also jene, von denen wir glauben, dass sie uns zuträglich sind und uns stärken könnten) in den Vordergrund und schenkt somit den weniger relevanten nicht allzu viel Beachtung.
Unsere Neigungen und Vorlieben bei der Auswahl dessen, was wir von dieser Unzahl an gleichzeitigen sinnlichen Eindrücken wahrnehmen, sind bestimmend für unsere Persönlichkeit. Wir entwickeln diese ganz individuellen Wahrnehmungs- und Deutungspräferenzen schon in sehr frühen Jahren, doch sie bleiben meist unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle.
Jeder Typ hat seinen bestimmten Aufmerksamkeitsfokus
So ist zu erklären, dass wir gar nicht bemerken, wie wir häufig nicht oder nur sehr eingeschränkt wahrnehmen, was unserer Grundüberzeugung nicht entspricht (affirmation bias). Wir neigen dazu, nur Beweise zu suchen, die unserer „Weltsicht“ eine Bestätigung liefern. Diese selektive Wahrnehmung steuert alle unsere mentalen Prozesse und bildet auch die Grundlage für die „Typenmuster“. Diese sind schon in der frühen Kindheit erkennbar.
Sobald die Persönlichkeit geformt ist, vertieft sich die Aufmerksamkeit für Themen, die für unseren Typ charakteristisch sind und festigt unsere Gewohnheiten im Handeln, Denken und Fühlen. Diese Gewohnheiten, die wir dann für die Wirklichkeit halten, entspringen jedoch einer Blickverengung und werden zum Charakteristikum für unseren Typ.
Das Enneagramm ist mehr als bloße Typenbeschreibung
Eine „Wirkung“ des Enneagramms besteht darin, uns diese Einsicht zu vermitteln. Wenn wir diese nicht nur intellektuell verarbeiten, sondern – vor allem! – emotional in uns aufnehmen, dann kann auch echtes Verstehen von „Anderssein“ in uns erwachen.
Eine weitere „Indikation“ für die Anwendung des Enneagramms muss einem Wunsch nach Veränderung bzw. Erweiterung unseres Handlungsrepertoires entspringen. Dann werden wir die Hilfestellungen, die uns das Enneagramm dafür gibt, erkennen und umsetzen. Es hilft uns nämlich zu unterscheiden, welches unsere tatsächlichen Bedürfnisse sind und welches die, von denen wir das fälschlicherweise glauben, dass sie sein sollten. Darüber hinaus zeigt es uns, wie wir den Mechanismus, den unser „Im-Typ-Sein“ verursacht, durchbrechen können.
Das eigene Wesen zur Entfaltung bringen
Es steckt aber noch viel mehr darin, in dem wo „Enneagramm“ darauf steht – sofern wir uns so weit vorwagen wollen. Mit unseren Stärken und Schwächen haben wir uns vielleicht schon vertraut gemacht. Aber wie sieht es mit den blinden Flecken aus? Das sind jene Bereiche, die unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle liegen, die wir daher kaum wahrnehmen, andere Menschen aber sehr wohl. Ein großer blinder Fleck kann uns in unseren Beziehungen, privat und beruflich, vor Probleme stellen, die wir kaum lösen können, weil wir eben gegenüber dem, was zu sehen nötig wäre, blind sind.
Diese blinde Flecken holt das Enneagramm in unser Bewusstsein – wenn wir dafür bereit sind. Denn das ist zunächst fast immer eine höchst unerfreuliche Entdeckung. Wir müssen uns erst anfreunden mit dem Monster, das unsere Schattenseiten repräsentiert und das dabei zum Vorschein kommen wird. Wir müssen das Monster hereinbitten und kennenlernen – so schwer uns das auch fällt! Nur in dem Maß, wie wir offen und bereit sind zu akzeptieren, was wir sehen, können wir allmählich darüber hinauswachsen.
Das passiert jedoch nicht nach der Lektüre eines Buches oder dem Besuch eines Seminars. Diese sind im besten Fall die Anfänge eines Suchprozesses, der dadurch in Gang kommt. Im Laufe dieses Prozesses werden wir das permanente Muster entdecken, das hinter unserem Verhalten und unseren Gefühlen steckt und sich meist unerkannt durch unser Leben zieht. Erst wenn wir uns diese unbewussten Funktionen unseres Charaktermusters ins Bewusstsein holen, können wir uns auf den Weg zur Selbstverwirklichung machen.
Die bisher besprochenen Ebenen des Enneagramms sind Teil des Enneagramms der Persönlichkeit und haben die hocherfreuliche Wirkung, unsere soziale Intelligenz beachtlich zu steigern. Vor allem die Bücher von Don Riso und Helen Palmer haben das Enneagramm der Persönlichkeit einem großen Publikum zugänglich gemacht. Deren Popularität basiert auf der genauen Beschreibung der psychologischen Wesenszüge, Ausprägungen und Muster der verschiedenen Typen sowie der Dynamik innerhalb des Modells, die uns den für jeden Typ spezifischen Weg der Entwicklung aufzeigt.
Jenseits der Persönlichkeitsebene
Eine weitere, tiefere Funktion des Enneagramms besteht jedoch darin, uns den Weg zu unserem „wahren Wesen“ jenseits der Persönlichkeitsebene aufzuzeigen. Hier setzt das spirituelle Enneagramm an. Es geht von der Vorstellung aus, dass wir eine wesensmäßige Persönlichkeit besitzen, die sich von der erworbenen Persönlichkeit (Ego) qualitativ unterscheidet. Die Arbeit mit dem spirituellen Enneagramm hilft zu unserem ursprünglichen Wesenskern zurückzufinden. Dieser Aspekt des Enneagramms ist faszinierend, führt aber über meine praktische Arbeit zur Persönlichkeitsbildung weit hinaus und soll daher in diesem Zuammenhang nicht weiter vertieft werden.
Auf welcher Ebene auch immer wir mit dem Enneagramm arbeiten, es wird seine Wirksamkeit nur dann entfalten, wenn die Erkenntnisse nicht allein im Kopf bleiben. Für sich betrachtet sind die Informationen, die es uns liefert, nämlich kein Allheilmittel. Sie sind nur Teil einer Landkarte, die uns mögliche Wege für persönliche Entwicklung zeigt. Es liegt an uns, einen solchen Weg dann auch tatsächlich zu gehen. Bleiben die Erkenntnisse nur im Kopf, wird das Enneagramm nur Anlass für höchst spannende Unterhaltung sein, seine Wirkung jedoch nicht entfalten.
Der Beipackzettel
Wenn von Wirkung die Rede ist, dürfen wir auch eventuelle unerwünschte Nebenwirkungen nicht außer Acht lassen! Diese treten dann auf, wenn wir das Enneagramm nicht mit genügend Sorgfalt anwenden, sowohl was uns selbst als auch andere betrifft.
In unserer Begeisterung darüber, über Charaktermuster Bescheid zu wissen, sind wir versucht zu glauben, dass wir auch andere einordnen zu können. Das darf auf KEINEN Fall passieren! Andere sozusagen von außen zu typisieren ist nicht nur riskant, da es in den Bereich der Spekulation fällt, sondern auch unzulässig. Nur die Person selbst ist Expertin ihrer Persönlichkeit und kennt ihre ureigene Motivation, auf die wir allein aufgrund ihres Verhaltens nicht schließen können.
Auch dürfen wir NICHT der Versuchung unterliegen, anderen Informationen zu unterbreiten, die diese nicht erbeten haben oder deren sie sich nicht bewusst sind. Sie fühlen sich rasch zum Objekt degradiert, wenn wir versuchen, sie zu analysieren und über ihre Eigenschaften zu spekulieren.
Wenn es um uns selbst geht, ist es ganz wesentlich, unseren Enneagrammtyp nicht als Verstärkung oder Rechtfertigung jener Tendenzen in uns aufzufassen, die sich wie ein roter Faden durch unser Leben ziehen und unseren Typ manifestieren – nach dem Motto „Du weißt, ich bin eine Sieben, ich brauche halt die Abwechslung …“. Damit würden wir das Symptom zur Medizin erklären!
Das Enneagramm sollte vielmehr zu einem vertieften Verständnis und Mitgefühl für uns selbst und andere verhelfen und den Weg zu innerer Freiheit aufzeigen. Dafür braucht es auch das tiefe Verständnis, dass wir zwar ein Persönlichkeitsmuster haben, dass wir aber viel mehr als unser Muster sind!