© Copyright Miramax Films

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Ein kleiner Biss genügt – „Typen“ im Film

Das Enneagramm beschäftigt sich mit Menschen: was sie gemeinsam haben, worin sie sich unterscheiden, was sie zum Ticken bringt. Aus solchem Stoff sind auch Geschichten und Filme gemacht – eine erbauliche Art über Menschen und das Enneagramm zu lernen.


Filme beruhen auf menschlicher Erfahrung. Die Menschen, die darin eine Rolle spielen, dürfen allerdings keine bloße Ansammlung von unterschiedlichen Eigenschaften sein. Jeder gute Film lebt von Charakteren, die glaubwürdige, in sich stimmige Figuren sind und dem Zuseher irgendwie vertraut vorkommen.

Charaktere vermitteln Inhalt

Durch das Verhalten der Charaktere wird dem Zuschauer der Inhalt einer Geschichte vermittelt und die Handlung vorangetrieben. Das Handeln der Hauptfigur wird von einem Ziel bestimmt, das sie erreichen muss und das den zentralen Konflikt der Story ausmacht. Die Zuschauer werden in die Geschichte „hineingezogen“ indem sie die Veränderungen und Konflikte miterleben.

Gute Geschichtenerzähler, Drehbuchschreiber und Schauspieler müssen die Filmfiguren, insbesondere die Hauptfiguren, in ihrer Mehrdimensionalität zeigen. Filmfiguren, genau so wie reale Menschen, haben nicht nur gute oder schlechte Eigenschaften, sondern sind von inneren Widersprüchen gezeichnet, die sich in unterschiedlichen Schattierungen ihres Charaktermusters äußern. So kommt es im Laufe der Handlung zu einem dynamischen Prozess, der zu einer Veränderungen der Einstellung und damit zu innerer Entwicklung der Figur führt.

Ist es eine gute Geschichte, hat sich zumindest der Protagonist weiterentwickelt und ist nicht mehr derselbe wie am Anfang. Seine Reise ist eine äußere wie eine innere. Um die innere Reise nachvollziehen zu können, muss sie in sich schlüssig sein. Das heißt, die Wandlung der Figur entspricht der in ihrem Typ angelegten inneren Dynamik – wie es auch die Entwicklungsstufen für den jeweiligen Typ beschreiben.

Stufen der Entwicklung

Wenn sich Filmfiguren innerhalb des Typs in die positive oder auch negative Richtung entwickeln, dann sind sie für uns glaubwürdig und die Geschichte ist für uns nachvollziehbar. Daher ist es auch nicht verwunderlich, dass viele Drehbuchautoren, besonders in Amerika, das Enneagramm in ihre Arbeit mit einbeziehen.

Im Film Chocolat gibt es, neben mehreren Nebengeschichten, die den Handlungsstrang wunderbar untermauern, den Konflikt zwischen dem französischen Bürgermeister Comte de Reynaud, selbsternannter Ordnungs- und Tugendhüter einer Kleinstadt, und der neuankommenden Vianne, deren Erscheinen im trostlosen Leben etlicher Bewohner wie ein Wirbelwind hereinbricht.

Der Comte verkörpert das Urbild einer Eins mit dem Fokus auf deren Schattenseiten und einer zunächst recht negativen Entwicklung, was die Dramaturgie des Films vorantreibt.
Der idealistische Typ Eins hat hohe Prinzipien und ist stets bemüht, seine ethischen Grundsätze hochzuhalten. Er übernimmt gerne die Rolle des Lehrers und Kreuzritters und stellt hohe Anforderungen an sich.

Ist die Eins ganz in die negative Ausprägung ihres Typenmusters verstrickt, fühlt sie sich ermächtigt, ihre gesamte Umgebung zu beurteilen oder auch zu verurteilen. Dabei kommt häufig ihr großer Schwachpunkt zum Vorschein: ihre Neigung zu Ungeduld und zu unterschwelligem Zorn, der sich zwischendurch auch Luft macht. Da eine solche Eins ihre Ansichten lautstark vertritt, muss sie auch einen entsprechend tadellosen Lebenswandel führen, um glaubwürdig zu sein.

Das weiß auch Comte de Reynaud, der die Geschicke der Stadt mit harter Hand leitet und glaubt, seine Vorstellungen von Anständigkeit auch den Bürgern verordnen zu müssen. Sogar die Predigtexte des jungen Pfarrers sichtet und ändert er vor ihrer Verkündung.

Da landet ausgerechnet in der Fastenzeit die umherziehende Vianne, Tochter einer mexikanischen Nomadin, mit ihrer Tochter in dem tiefkatholischen Städtchen, mietet sich direkt gegenüber der Kirche ein und eröffnet dort eine Chocolaterie.

Der Konflikt ist vorprogrammiert

Den örtlichen Sittenwächtern ist sie ein Dorn im Auge – stellen doch ihre Süßigkeiten gerade zur Fastenzeit eine große Versuchung dar. Der bigotte Bürgermeister sieht in Vianne gar die Verkörperung des Bösen, zumal er zur Kenntnis nehmen muss, dass sie nicht in die Kirche geht und frei von Schuldgefühl zu ihrer unehelichen Mutterschaft steht. Er kann nicht anders als unverzüglich einen Glaubenskrieg gegen sie zu beginnen.

Vianne verkörpert eine Zwei. Sie ist einfühlsam, aufrichtig, warmherzig und sucht die Nähe zu anderen Menschen in der Absicht, ihnen beizustehen. Trotz des heftigen bürgermeisterlichen Feldzuges gegen sie macht sie sich in dem Städtchen Freunde, indem sie auf charmante und fürsorgliche Art auf die Leute zugeht. Intuitiv erkennt sie ihre versteckten Bedürfnisse und schafft mittels perfekt abgestimmter, “magischer“ Rezeptur Abhilfe – für jedes Anliegen findet sie die passende Schokolade!

Typ Eins in der negativen Entwicklungsspirale

Währenddessen wird der Bürgermeister in seiner Tugendmission immer unerbittlicher und menschenfeindlicher. Sein Kampf gegen eigene Wünsche und Begierden nimmt verzweifelte Formen an. Den Kampf gegen Viannes versucht er zu gewinnen, indem er ihre ’Unmoral’ an den Pranger stellt.

Zu seiner großen Irritation hört er ausgerechnet während des Gottesdienstes Geraschel von Stanniolpapier und muss einsehen, dass seine Bemühungen um die Tugendhaftigkeit der Bewohner in jeder Hinsicht gescheitert sind.

Das Eingeständnis des Scheiterns im Kampf für „Sitte und Anstand“ öffnet bei dem Bürgermeister die Schleusen der Zurückhaltung. Wut und Frustration, die ab einem gewissen Grad von negativer Entwicklung in der Eins stecken, kommen zum Ausbruch.

Mit einem Messer bewaffnet verschafft sich der Comte gewaltsam Zugang in die Chocolaterie, klettert in das mit Köstlichkeiten üppig dekorierte Schaufenster und beginnt seinen Akt der Vernichtung „allen Übels“ mit zerstörerischer Wut. Dabei verspürt er ungewollt den Geschmack von Schokolade auf seinen Lippen. Das ist jener Moment, in dem er seinen selbst auferlegten Kampf gegen sinnliche Begierde verliert.

Er gibt sich einer ekstatischen Schokoladenorgie bis hin zur erlittenen Ohnmacht. Als er am nächsten Morgen erwacht – es ist Ostersonntag – fühlt er sich aufs äußerste beschämt. Er rechnet mit gnadenloser Verurteilung für seinen moralischen Niedergang. Als er jedoch in die Augen von Vianne schaut, die ihm in ein Glas Wasser entgegenstreckt, spürt er nur Mitgefühl und Freundlichkeit. Dieser unerwartete Moment lässt ihn auch den Zugang zum eigenen Herzen finden – unbeeindruckt sogar von der Erkenntnis, die österliche Predigt diesmal dem jungen Pfarrer überlassen zu müssen.

Happy End im Film – positive Entwicklung für Typ Eins und Zwei

Die Predigt des junge Pfarrer beschreibt das Gute im Menschen, das gemessen wird an dem was wir tun und nicht an dem, was wir uns versagen. Der Bürgermeister hört in einer Gemütsverfassung zu, die wir als heitere Gelassenheit beschreiben können.

Heitere Gelassenheit ist auch jene „Tugend“, die es am persönlichen Entwicklungsweg für die Eins zu erreichen gilt. Heiterkeit als geistige Haltung, die der Fröhlichkeit ebenso viel Bedeutung beimisst wie der Traurigkeit, und Gelassenheit, die auch Widersprüchliches und Andersartiges gewähren lässt.

Auch Vianne hat sich im Lauf der Geschichte weiterentwickelt. Sie bricht nicht mehr zu ihrer nächsten “Rettungsmission” auf, sondern erkennt ihr eigenes Bedürfnis nach Wurzeln und einer stabilen Umgebung.

Literaturhinweise

Thomas Condon, Enneagram Movie & Videoguide, Portland 1999
Don R. Riso, Russ Hudson, Die Weisheit des Enneagramm, Goldmann Verlag 2000

Fotos mit freundlicher Genehmigung von

VANINI 1871
Herrengasse 6-8
1010 Wien
www.vanini1871.at