Das Enneagramm, mein Ego und ich
„So viel Drama, typisch Vier!“ – „Immer diese verrückten Siebener!“ … Klischeehafte Aussagen wie diese lassen das Enneagramm beinahe wie ein Party-Spiel erscheinen. Es kann tatsächlich dazu verkommen, wenn wir nicht verantwortungsvoll damit umgehen und seinen ursprünglichen Sinn und Zweck aus den Augen verlieren.
In relativ kurzer Zeit können wir uns ein Enneagramm-Basiswissen erwerben, das meist aus einer Beschreibung der neun Typenmuster besteht. Anschließend lässt sich mit ein bisschen Übung in Selbstwahrnehmung und tabuloser Selbstanalyse jene „Zahl“ finden, die (vermutlich) auf uns zutrifft. Vielleicht empfinden wir es ein bisschen irritierend, uns damit abzufinden, dass ungefähr ein Neuntel der Menschheit annähernd so tickt wie wir; aber gleichzeitig ist es doch auch beruhigend, das zu wissen, denn dadurch fühlen wir uns besser verstanden.
Andere Typenmuster verstehen
Wenn wir unser Interesse am Enneagramm etwas weiter ausdehnen, werden wir uns fragen, was wohl das Typenmuster unserer Freunde, Bekannten oder Vorgesetzten sein mag. In unserer Anfangsbegeisterung darf es aber keinesfalls so weit kommen, dass wir ihnen das mitteilen, denn das würde sie ganz und gar nicht begeistern! Wir werden jedoch feststellen, dass es enorm hilfreich ist, das Typenmuster jener Menschen zu erkennen, zu denen wir eine anhaltende Verbindung haben. Denn Verhalten, das wir vielleicht eigenartig bis ärgerlich fanden, können wir plötzlich besser verstehen und werden dadurch toleranter. Es wird leichter, Resonanz herzustellen, wo vorher vielleicht Unverständnis geherrscht hat. Auf dieser Basis macht das Enneagramm viel Sinn. Die Möglichkeiten, die es uns bietet, sind aber damit bei weitem nicht ausgeschöpft.
Um auch im entlegensten Dorf im Ausland ein Bier in der Landesprache bestellen oder nach dem Weg fragen zu können, wird ein Semester-Kurs auf der Volkshochschule reichen – um Land und Leute kennenzulernen, sicherlich nicht. Um das Enneagramm in seiner Vielschichtigkeit zu erfassen und die Wege, die es uns für unsere persönliche Entwicklung aufzeigt, erkennen und beschreiten zu können, braucht es ebenfalls eingehende Beschäftigung damit – und mit uns selbst. Letzteres ist oft der schwierigere Teil der Übung.
Vom Ego zum authentischen Ich
Um von der Theorie in die persönliche Umsetzung zu kommen, ist es zunächst einmal nötig, vom hohen Ross unserer eingebildeten Einzigartigkeit zu steigen. Nur so ist es möglich, die gesamte Tiefe unserer menschlichen Natur auszuloten und auf dieser Ebene die Gesamtheit dessen, was unser Wesen ausmacht, zu erleben. Viele alte Traditionen und auch das Enneagramm sprechen von jenen Potenzialen, die in uns angelegt sind und die, im Gegensatz zu unserer „Persönlichkeit“, unserem „wahren Selbst“ entsprechen. Um dorthin zu gelangen, werden wir auch auf vieles stoßen, das uns auf Anhieb nicht gefallen mag.
Wenn wir unser Typenmuster kennen, dann wissen wir, wie sehr es in vielen Fällen auch „Verhinderer“ ist. Es zieht die Fäden für unser „So-Sein“ auf ziemlich einseitige Weise, und wenn etwas nicht im Einklang damit steht, erzeugt es in uns starke Unlustgefühle. Damit hält es uns in den eingefahrenen Geleisen unserer Persönlichkeit fest. Diese Geleise markieren unser idealisiertes, konditioniertes Ich – wir nennen es auch Ego.
Dem Konzept vom eigenen Selbst, welches sich durch frühkindliche Prägungen und Konditionierungen, später durch andere Erwachsene oder durch Religion und Kultur gebildet hat, versuchen wir angestrengt zu entsprechen. Es repräsentiert unsere subjektive Vorstellung davon, wie wir sein sollten, damit wir unsere Ängste überwinden und unser Leben gelingt. Das Ego lässt uns – im Unterschied zum authentischen Ich – eine Fassade nach außen tragen, um unseren Selbstwert zu erhöhen, und bewirkt, dass wir uns in erster Linie mit Dingen beschäftigen, von denen wir glauben, dass sie uns Anerkennung und Bewunderung einbringen. Dadurch schafft es Bedürfnisse, deren Erfüllung uns jedoch nie zum erstrebten Ziel bringt, denn es führt uns immer weiter weg von unserem wahren Selbst.
Das Ego „leiser“ drehen
Natürlich brauchen wir ein gesundes Ego, um den Anforderungen unseres Alltags zu entsprechen. Es gehört zu unserer Natur und gibt unserem Streben und Handeln Richtung. Wenn ein Mensch psychisch reif und reflektiert ist, erfüllt das Ego seine Aufgabe wohldosiert und im Hintergrund. Je mehr wir jedoch den Anweisungen unseres Egos Folge leisten, desto „lauter“ wird es und sabotiert unser authentisches Ich. Wir sind dann auf unser Typenmuster fixiert und weit entfernt von der Person, die wir sein könnten. Jeden Typ begleiten Themen und Lebensfragen, die in Variationen immer wiederkehren und die wir auch als unsere Ego-Programme bezeichnen können.
Ziel und Zweck unserer Persönlichkeitsarbeit mit dem Enneagramm ist es, unser Ego „leiser“ zu stellen. Anstatt nach schulterklopfender Anerkennung zu trachten, ist es für unser psychisches Wohlergehen wesentlich besser, uns mehr Bewusstheit darüber zu verschaffen, was in unserem Inneren vor sich geht und was unsere vielen unbewussten Handlungen im Grunde erzielen wollen. Das bedeutet keineswegs, die Bedürfnisse des Selbstwertgefühls zu leugnen, sondern lediglich, zu einer weniger defensiven und reaktiven Haltung sich selbst und anderen gegenüber zu finden.
Sobald wir unser Typenmuster tatsächlich annehmen, verbannen wir unsere Schattenseiten nicht mehr in den hintersten Winkel unseres Bewusstseins, sondern fügen sie unserem Selbstbild hinzu. Dadurch machen wir einen großen Schritt zu persönlicher Reife, denn wir haben Einblick in die Trickkiste unseres Egos gewonnen und werden allmählich weniger anfällig für seine Versuchungen. Dann können wir auch die Fassade unserer Persönlichkeit durchbrechen und Schritt für Schritt jenes innere Gleichgewicht finden, das uns Ruhe und zugleich Stärke verschafft.
Das Ego leistet Widerstand
Auf diesem Weg müssen wir jedoch damit rechnen, dass das Ego enorme Widerstände aufbaut, denn auf nichts ist der Mensch so fixiert wie auf sein Selbstbild. Das Ego lässt uns mit hoher Emotionalität reagieren, wenn es sich zurückgedrängt fühlt. Doch es kümmert sich nicht um unsere wahren Bedürfnisse und Gefühle, und wenn wir unser Verhalten nach ihm ausrichten, hinterlässt es nur eine innere Leere.
Wenn wir unseren Grundtypus kennen, zeigt uns dieser unser größtes Potential, aber auch unsere Hauptschwäche. Davon ausgehend, können wir versuchen, unser Ego aktiv zu beeinflussen. Das heißt, wir können lernen, auf bewusst gewähltes Handeln umzuschalten, statt automatisch zu reagieren – und so den Raum zwischen Reiz und Reaktion nutzen. Dann werden wir fähig, die besten Seiten unserer Haupteigenschaft zu aktivieren, aber nicht in die Falle zu tappen, unsere Stärken zu sehr zu strapazieren, denn sonst werden sie zu unseren größten Schwächen.
Wie ein Leben ohne Ego aussehen würde, ist reine Spekulation, denn kein Mensch ist gänzlich frei davon. Wer ganz unten in seiner Persönlichkeitsentwicklung landet, wird vollkommen von seinem Ego beherrscht. Welch großes Leid es schafft, wenn das Ego vollständig Regie führt – für den Einzelnen wie für seine Umgebung, für die Weltgemeinschaft und für die Natur, davon werden wir tagtäglich Zeuge.
Wenn wir das Enneagramm in seiner ursprünglichen Bedeutung sehen und nützen wollen, nämlich als Unterstützung und Anleitung für die eigene Persönlichkeitsarbeit, müssen wir uns mit unserem Ego auseinandersetzen, und zwar ständig, denn es wird immer versuchen, sich lautstark in den Vordergrund zu drängen. Mit einem Ego auf verträglicher Lautstärke werden wir in unsere Mitte finden, mit uns selbst und unserem wahren Wesen verbunden sein und eine stille Freude erleben, die eine völlig andere Qualität hat als eine gute Stimmung (Riso / Hudson).
Zum Weiterlesen:
Kaufman, Scott B. (2020), Transcend: The New Science of Self-Actualization
Riso, Don & Russ Hudson (2000), Die Weisheit des Enneagramms
Walch, Sylvester (2011), Vom Ego zum Selbst