Erkennen, was ist – Achtsamkeit und Enneagramm
Persönliches Verhalten zu verändern kann doch gar nicht so schwierig sein! Zumindest glauben wir das immer dann, wenn wir uns theoretisch damit beschäftigen. Die praktischen Konsequenzen sind jedoch oft enttäuschend, zumindest solange wir unseren inneren Autopiloten dabei außer Acht lassen.
Eine Zauberformel für Veränderung?
Sie kennen vielleicht folgende Situation: Am Wochenende haben Sie ein ganz tolles Seminar besucht und eine Menge neuer Ideen darüber gesammelt, wie Sie gewisse Veränderungen sogleich in Ihren Alltag integrieren können. Probleme, Herausforderungen – das fühlt sich an wie Schnee von gestern! Plötzlich meinen Sie, alles kinderleicht bewältigen zu können, so als hätten Sie die Zauberformel gefunden. Aber wie lange hält die Euphorie über die neu gewonnene Leichtigkeit an? Eine Woche vielleicht? Über kurz oder lang ist doch wieder alles beim Alten und der Workshop nicht mehr als eine spannende Erfahrung.
Eine Zauberformel gibt es nicht!
So kann es Ihnen natürlich auch nach einem Enneagramm-Seminar gehen, wenn Sie nicht „dran bleiben“! Echte Veränderung wird die Kenntnis des Enneagramms allein nicht bewirken, es kann uns aber den Weg dorthin zeigen. Gehen müssen wir ihn dann selbst. Dafür ist innere Arbeit nötig. Das war die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht: Diese innere Arbeit, für die uns das Enneagramm eine präzise Landkarte liefert, macht Freude, schafft Inspiration und kann uns zu glücklicheren Menschen machen. Arbeit bleibt es jedoch allemal!
Das Wissen über unseren Enneagrammtyp verschafft uns ein Bewusstsein dafür, wie uns die Ausprägung unseres Typenmusters davon abhalten kann, authentisch wir selbst zu sein und unseren unverfälschten Wesenskern zu finden. Dafür ist ein klares Verständnis des Systems der Persönlichkeitstypen Voraussetzung, doch das allein genügt noch nicht.
„Auf frischer Tat“ ertappt
Voraussetzung für erfolgreiche Veränderung ist es, uns dabei zu ertappen, wenn wir wieder einmal, bewusst oder unbewusst, den Automatismen unseres Musters folgen. „Catching ourselves in the act“ nennen es Don Riso und Russ Hudson (The Wisdom of the Enneagram). So wie alle anderen Enneagrammlehrer fordern auch sie uns auf, unsere inneren Aktivitäten aufmerksam zu beobachten, um mehr Handlungsspielraum zu erlangen.
Wir können zwar versuchen zu verstehen, warum wir uns neulich während des Gesprächs mit unserem Chef so aufgeregt haben, eine Analyse in der Vergangenheit ist aber bei weitem nicht so nützlich, wie uns auf frischer Tat in unserer Aufgeregtheit zu ertappen. In diesem Moment können wir wahrscheinlich unsere aufkommende emotionale Reaktion als Folge jenes unerfüllten Bedürfnisses verstehen, das kennzeichnend für unseren Typ ist.
Sich bei „inneren Gewohnheiten“ auf frischer Tat zu ertappen bedeutet, dass unser Verstand sozusagen die Position des „distanzierten Zeugen“ einnimmt und ohne zu beurteilen feststellt, was vor sich geht. Wir nennen das Achtsamkeit. Die Praxis der Achtsamkeit ist inzwischen auch in weiten Teilen der Medizin und der Gesellschaft angekommen, um Menschen dabei zu helfen, besser mit Stress, Angst oder Krankheit umzugehen.
Im Moment sein
Achtsamkeit ist Voraussetzung dafür, dass wir lernen, unser Persönlichkeitsmuster nicht nur in der Theorie zu verstehen, sondern es im Moment des Agierens zu erkennen. Dabei ist es wirksam, jene Aspekte, die das eigene Verhaltensmuster negativ beeinflussen, im Moment des Geschehens auch zu benennen. Zum Beispiel könnte der innere Dialog folgendermaßen lauten: „ Ich merke, wie ich zornig werde, weil Schüler XY schon wieder meine Anweisungen nicht befolgt“ oder „Ich bin traurig, weil mein Chef auf mein Lächeln nicht reagiert hat“, oder „Diese Party droht langweilig zu werden, vielleicht mache ich mich lieber gleich aus dem Staub!“
Es hilft, uns von unerwünschten Emotionen zu distanzieren, wenn wir sie erst einmal bewusst zur Kenntnis nehmen und benennen. Anstatt uns ausführlich mit diesem oder jenem Grund für unsere Emotionen zu befassen, können wir lernen, die Gedanken darüber einfach vorbei ziehen zu lassen.
Sobald wir uns – aus „neutraler“ Position – dabei beobachten, wie wir in bestimmten Situationen unbewusst ständig nach ein und demselben Muster agieren, machen wir die erstaunliche Entdeckung, dass es viel mehr als diese eine Möglichkeit der Reaktion gibt. Das macht uns frei und gibt uns Gestaltungsspielraum.
Menschen des Typs Eins zum Beispiel sind getrieben von einem Streben nach „Vollkommenheit“ und „Richtigkeit“. Ein innerer Kritiker mit unerbittlichen Maßstäben wacht darüber, dass diese auch eingehalten werden – von der Person selbst wie auch von anderen. Aber so sehr sich die Eins auch bemüht, dieser Kritiker ist nie zufrieden. Alles könnte noch schöner, interessanter, ordentlicher, genauer, gemütlicher … sein! Die Realität schneidet im Vergleich zu den überhöhten Idealvorstellungen des inneren Kritikers immer schlecht ab. Die Folge bei Typ Eins sind Unentspanntheit, Frustriertheit, aufkeimender Zorn oder Groll: alles unterschiedliche Schattierungen eines Gefühls, das von „innerer Ladung“ geprägt ist. Das lässt sich leider trotz Verstehens der Zusammenhänge nicht einfach auf Knopfdruck abstellen. Durch Bewusstheit und Achtsamkeit kann man jedoch, so behaupten es zumindest die darin schon sehr Geübten, die emotionale Reaktion steuern. Durchschnittlich Geübte können Ihnen verlässlich zusichern, dass es immer wieder und immer besser klappt!
„Du kannst die Wellen nicht stoppen, aber du kannst lernen zu surfen.“ (Jon Kabat-Zinn)
Wenn wir uns immer öfter dabei ertappen, wie wir uns gemäß dem Diktat unseres Typenmusters verhalten, können wir allmählich darüber hinauswachsen. Dadurch sind wir weniger von den entstehenden Gefühlen überrascht und ihnen ausgeliefert.
Achtsamkeit wird leider nie zur Gewohnheit, sondern braucht immerfort Übung. Aber keine Sorge, Sie müssen nicht jahrelang Sitzmeditation üben! Zu einer achtsamen Haltung finden Sie auch, indem Sie sich bewusst und immer öfter auf das Hier und Jetzt konzentrieren, einfach tief durchatmen, sich bewusst den blauen Himmel anschauen und beobachten, was dabei in Ihrem Inneren geschieht.
Wenn Sie beim nächsten Mal wieder dazu ansetzen, Ihrem Muster entsprechend zu agieren, dann sagen Sie sich kurz „Stopp“, und beobachten, was in Ihnen gerade vorgeht. Mit entsprechender Übung und einer akzeptierenden Haltung werden Sie allmählich lernen, auf den Wellen Ihrer Emotionen zu surfen, anstatt vergeblich dagegen anzukämpfen.